Die 50er

Neuer Stil im neuen Heim

Mit der Inszenierung von Carlo Goldonis „Lügner“ stellte das Kleine Spiel 1952 zum erstenmal ein abendfüllendes Stück auf die Bühne, das sich von der Nachahmung des Menschentheaters gelöst hatte. Die Figuren waren nicht länger niedliche Püppchen, sondern Charakterköpfe mit überzeichneten Zügen; ihre jeweiligen Eigenschaften standen den Marionetten buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Neu war auch die Behandlung des Bühnenbilds: Es wirkte nicht mehr wie eine Puppenstube, sondern war durch klare Formen, die Betonung der Linie und starke Farbkontraste entsüßt. Der Boden hatte sich in nach vorn gekippte Inseln aufgelöst. Sie waren nicht nur Laufflächen für die Marionetten, sondern avancierten zu eigenständigen Elementen der Inszenierung, die den Eindruck großer Weite und Tiefe des Raums hervorriefen. Der sonst so streng begrenze Guckkasten war optisch aufgebrochen.

Die „Lügner“-Premiere am 20.5.1952 war gleichzeitig die Eröffnungsvorstellung für die neuen Theaterräume im ehemaligen Cafétrakt der Schwabinger Universitätsreitschule, Königinstraße 34. Nach einem von 1949 bis 1952 tobenden Rechtsstreit mit dem Hauseigentümer der Ainmillerstraße, der den Wohnwert seines Hauses durch das Theatertreiben im vierten Stock gefährdet sah – die Mieter in den unteren Etagen konnten das nur bestätigen – , hatte das Kleine Spiel die Atelierwohnung schließlich räumen müssen.

Nachdem wir (…) reichliches Verständnis dem Betrieb oberhalb unserer Wohnung gezeigt haben, sehen wir uns jetzt (…) doch gezwungen, dem überlauten Verhalten und fürchterlichen Gepolter über uns Einhalt zu gebieten. Trotzdem wir um ½ 11 h nachts mehrmals geklopft haben, wurde es noch lange nicht ruhig. (…) Wir ersuchen, künftig Ruhe zu bewahren und das Gepolter energischst einzustellen.“ (aus dem Brief einer Hausbewohnerin der Ainmillerstraße an das Kleine Spiel 1948)

Die Kleinen Spieler bauten die ebenfalls vom Krieg beschädigten Reitschulräume zu einem Theater für etwa 75 Zuschauer mit Foyer, Werkstatt und Lager um. Die romantisierende Ausstattung der Ainmillerstraße war einer schnörkellosen und nüchterneren Version gewichen.

Tankred Dorst und das Kleine Spiel

Im Herbst 1951 stieß ein Germanistikstudent zum Kleinen Spiel: Tankred Dorst. Insgesamt gehörte er dem Theater etwa 13 Jahre an; hier machte er auch seine frühen Gehversuche als Dramatiker. Außerdem beschäftigten sich seine ersten Veröffentlichungen, der 1957 erschienene Band „Geheimnis der Marionette“ und das Werkstattbuch „Auf kleiner Bühne. Versuche mit Marionetten“ von 1959, mit dem Kleinen Spiel und den dort gesammelten Erfahrungen. Dorst entwickelte darin eine wegweisende Dramaturgie des Marionettentheaters mit seinen spezifischen Ausdruckmöglichkeiten.

Wir wollten nicht mehr die alten klassischen Stücke spielen, weder Faust noch Goldoni, noch Haydn. Wir lehnten die Imitation des Menschentheaters ab. Um genau zu sein, wir wollten die Gattung des Marionettentheaters völlig neu erfinden. Unserer Meinung nach konnte die Marionette die schöpferische Phantasie vollkommener verkörpern als der menschliche Schauspieler. Sie ist keinen physikalischen Zwängen wie der Mensch unterworfen und noch nicht mal an seine äußere Erscheinung gebunden: Sie kann schweben, sich verwandeln, plötzlich erscheinen und v erschwinden wie die gleitenden Bilder des Traums. (…) Unser Theater wollte ein Theater der Bilder ohne Psychologie, ein Theater der Poesie und des Traums sein. Wir wollten Geschichten erzählen.“ (aus „Nous voulions raconter des histoires“ von Tankred Dorst. In: Puck. La marionnette et les autres arts. Nr. 8, 1995)

Insgesamt schrieb Dorst acht Stücke eigens für das Kleine Spiel, in denen er Wort und Handlung, Figur und Aktion harmonisch miteinander zu verbinden versuchte. Einige davon stehen auch heute noch auf dem Spielplan: „A Trumpet for Nap“, ein Trompetermärchen (1959), die Kannibalette „Maipus Versuchung“ (1961) und „Die Geschichte von Aucassin und Nicolette“ (Erstaufführung 1953, Neuinzenierung 1964).

„Ich erinnere mich an all dies gern zurück. Wie weit es heute weg ist! Ich habe andere Stücke geschrieben; die Notwendigkeit, sich der Realität stärker anzunähern, den Problemen und der Tragik unserer Existenz, hat mich immer weiter von meinen Anfängen entfernt, auch wenn man in den realistischen Stücken manchmal Elemente finden kann, die aus dem Marionettentheater kommen. Heute denke ich, es wäre vielleicht gut, wieder mit dem Schreiben von Marionettenstücken anzufangen – mit der ganzen Lebenserfahrung im Hintergrund.“ (aus „Nous voulions raconter des histoires“ von Tankred Dorst, 1995)

Von der Unireitschule in die Neureutherstraße

Und wieder einmal stand ein Umzug ins Haus: Das Kleine Spiel musste die Reitschule verlassen, weil sie in ein Restaurant zurückverwandelt werden sollte. Ein neues Heim fand man im Keller der Schwabinger Neureutherstr. 12 – bis heute die Adresse des Kleinen Spiels. Die frisch umgebauten Räume wurden am 25.2.1956 mit Dorsts „Eugen. Eine merkwürdige Geschichte“ feierlich eingeweiht.